Ein Beitrag von
Stefan Alexander Entel
Der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hält es für zwingend erforderlich, dass die nationalen Parlamente über das geplante Freihandelsabkommen zwischen EU und den USA –Transatlantic Trade and Investment Partnership (kurz: „TTIP“) – abstimmen. „Kein TTIP ohne Zustimmung der nationalen Parlamente“, lautet sein Credo. Damit steht er nicht allein. Was auf den ersten Blick als selbstverständlich anmuten mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als durchaus strittig. So hält ihm die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström unisono mit ihrem Vorgänger Karel De Gucht entgegen, bei dieser Frage handele es sich um ein rein juristisches Problem, das erst ganz am Ende entschieden werden könne. Eines lässt sich heute jedoch bereits mit Gewissheit sagen: Die verfassungsrechtliche Wirklichkeit nimmt nicht immer Rücksicht auf persönliche Wunschvorstellungen von Politikern. Das Thema „TTIP“ bietet Gelegenheit, sich mit einigen Aspekten dieser verfassungsrechtlichen Wirklichkeit in der Europäischen Union ein wenig näher zu befassen. Nicht erst mit der Debatte um TTIP ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, als stünden die EU und ihre 28 Mitgliedstaaten in einem Spannungsverhältnis zueinander. Manch´ einem mutet die EU gar als eine exterritoriale, fremde Macht an, die ein Eigenleben zum Zweck der Majorisierung der Nationalstaaten führt.
Auch wenn es das berühmte Tragen von Eulen nach Athen bedeuten mag, es kann offenkundig nicht häufig genug betont werden: Die Europäische Union ist ein Ganzes, eine Einheit und die Mitgliedstaaten sind gleichsam gleichberechtigte Teile und Träger dieses Ganzen, dieser Einheit. Als Union ist die EU ein aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetztes Gemeinwesen mir einem Regierungssystem auf mehreren Ebenen – ein multi level governance system! Ihrem Wesen nach besitzt die EU, mögen viele dies auch nicht wahrhaben wollen, föderale Züge. Die europäischen Staaten haben mit der EU ein in der Welt einzigartiges politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell geschaffen, mit dem sie Teile ihrer nationalen Souveränität (= politische Gestaltungsmacht) „fusioniert“ und zur Ausübung im gemeinsamen Interesse auf überstaatliche, europäische Organe/Institutionen übertragen haben. Die „Spielregeln“, nach denen die europäischen Organe agieren, sind von den Mitgliedstaaten selbst ersonnen worden. Auch dies scheint in der europapolitischen Debatte oftmals in Vergessenheit zu geraten. Die politischen Aktionsfelder, auf denen die europäischen Organe tätig werden und die dafür geschaffenen „Spielregeln“, ergeben sich aus der von den Mitgliedstaaten gemeinsam geschaffenen „Verfassung“ der EU, einem Konglomerat aus drei Elementen, dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und ergänzt um die Charta der Grundrechte der Europäischen Union“. In den beiden genannten Verträgen finden sich die Bestimmungen darüber, in welchen Bereichen die EU eine ausschließliche und in welchen Bereichen eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit besitzt. Letzteres ist hier nicht von Bedeutung. In die ausschließliche Zuständigkeit der EU- Institutionen fallen die Bereiche
Zollunion, Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln, Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik und gemeinsamer Handelspolitik. (nachzulesen in Art.3, Abs. 1 AEUV).
„Ausschließliche Zuständigkeit der Union“ bedeutet, dass in den genannten Politikbereichen nur die EU, d.h. ihre Institutionen gesetzgeberisch tätig werden können. Die Zuständigkeit im Bereich Handelspolitik ist das Pendant zur Zuständigkeit im Bereich „Gemeinsamer Markt/Binnenmarkt. Bereits mit dem EWG- Vertrag aus dem Jahre 1957 haben die Mitgliedstaaten den Organen der Gemeinschaft (heute EU) umfassende Kompetenzen zur einheitlichen Gestaltung der Außenhandelsbeziehungen übertragen zu dem Zweck, den Gemeinsamen Markt (Binnenmarkt) durch eine Gemeinsame Handelspolitik abzusichern. Inzwischen gehört die Handelspolitik zu den am stärksten integrierten Politikfeldern der EU.
Außenhandelspolitisch ist die EU weltweit ein maßgeblicher Akteur, außen- und sicherheitspolitisch lässt sich das von ihr – wie bekannt – (noch) nicht behaupten.
Zu dem Instrumentarium der EU in Sachen Handelspolitik zählen konsequenterweise auch
völkerrechtlicher Abkommen, d.h. Außenhandelsabkommen mit Drittstaaten. „TTIP“ ist ein solches.
Womit wir bei der Frage nach dem Verfahren, insbesondere der institutionellen Rollenverteilung und politischen Verantwortung innerhalb des institutionellen Dreiecks der EU, bestehend aus Kommission, Rat und Europäischem Parlament sind. Auf die Rolle des Europäischen Gerichtshofes (EUGH) in diesem Zusammenhang wird am Ende noch gesondert einzugehen sein.
Den Auftakt des Verfahrens bildet ein Vorschlag der Kommission, den sie dem Rat unterbreitet. Besitzt auch die Kommission das Vorschlags- und vor allem das Verhandlungsmonopol bei Außenhandelsabkommen, so ist der zentrale Akteur in dem Verfahren jedoch der Rat, die Vertretung der Mitgliedstaaten im politischen System der EU. Für alle wesentlichen Verfahrensschritte trägt er die rechtliche und politische Verantwortung. Übrigens: Der Rat ist nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, dessen Sitzungen gemeinhin als sog. Gipfeltreffen apostrophiert werden. Dem Rat –hier in der Zusammensetzung der nationalen Handelsminister – unterbreitet die Kommission einen Vorschlag zum Abschluss eines solchen Handelsabkommens.
Greift der Rat den Vorschlag der Kommission auf, so erteilt er der Kommission auf der Grundlage eines zuvor je nach Gegenstand des geplanten Abkommens mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig zu fassenden Beschlusses ein Verhandlungsmandat. Kurzum: Auch wenn also das Verhandlungsmonopol bei der Kommission liegt, Ziele und Rahmen der Verhandlungen bestimmt der Rat, also die Mitglieder der nationalen Regierungen!
Im Falle von „TTIP“ hat der Rat in der Zusammensetzung der nationalen Handelsminister der Kommission im Juni 2013 ein solches Mandat erteilt, dessen Umfang, wie trotz aller Geheimhaltung durchgesickert ist, sehr weit gefasst sein soll und der Kommission einen breiten Verhandlungsspielraum eröffnet.
Woran Kommission bei ihren Verhandlungen und Rat bei seiner Mandatserteilung in jedem Falle gebunden sind, ist der verfassungsmäßige Auftrag der EU im Rahmen ihres auswärtigen Handelns. Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft. Die Werte, auf denen sie gründet, so betont ihre „Verfassung“, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.
Diesen Werten weltweit zu stärkerer Geltung zu verhelfen und darüber hinaus zur Förderung nachhaltiger Entwicklung in den Entwicklungsländern, sowie zur Entwicklung von internationalen Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Qualität der Umwelt und der nachhaltigen Bewirtschaftung der weltweiten natürlichen Ressourcen beizutragen, verpflichtet die „Verfassung“ der EU ihre Institutionen und die Mitgliedstaaten auch im Rahmen ihrer Außenhandelspolitik. Diese Kriterien sind mithin letztendlich genauso maßgeblich bei der Bewertung von Handelsabkommen wie rein ökonomische Faktoren. Inwieweit diese Parameter bei „TTIP“ einschlägig sind, sei einmal dahingestellt. Zumindest beim Stichwort „Rechtsstaatlichkeit“ dürfte man eingedenk der leidenschaftlich geführten Debatte um die vorgesehenen Schiedsgerichte hellhörig werden.
„Die Kommission führt die Verhandlungen im Benehmen mit einem zu ihrer Unterstützung vom Rat bestellten Sonderausschuss und nach Maßgabe der Richtlinien, die ihr der Rat erteilen kann. Die Kommission erstattet dem Sonderausschuss sowie dem Europäischen Parlament regelmäßig Bericht über den Stand der Verhandlungen“ heißt es weiter in den einschlägigen Bestimmungen.
Die Führung der Verhandlungen obliegt der EU- Kommissarin für Handel, Anna Cecilia Malmström. Mit dem Innenleben der europäischen Institutionen ist die schwedische Politikwissenschaftlerin bestens vertraut. So gehörte sie als Vertreterin der schwedischen liberalen Volkspartei von 1999 bis 2006 dem Europäischen Parlament an, von 2006 bis 2007 war sie als schwedische Europaministerin im Kabinett Reinfeldt Vertreterin ihres Landes im Rat. Im Februar 2010 folgte der Wechsel vom Ministersessel in Schweden auf den Stuhl der EU- Kommissarin für Innenpolitik in Brüssel. Für Furore sorgte die Mutter von Zwillingen schon kurz nach ihrem Amtsantritt in Brüssel im März 2010 mit einem Vorstoß zur Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet. Eine Initiative, die bei Bürgerrechtlern und Internetnutzern gleichermaßen auf Kritik stieß, sah man hierin doch die zarten Anfänge von Zensur des Internets. Internetaktivisten verdankt sie deshalb auch in Anlehnung an den englischen Begriff censorship den Spitznamen „Censilia“.
In der Juncker- Kommission ist sie seit November 2014 für das Ressort „Handel“ verantwortlich und damit auch für die regelmäßige Berichterstattung gegenüber Rat und Europäischem Parlament. Das Europäische Parlament, die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im politischen System der EU, ist dabei in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend zu unterrichten.
Auch wenn die Verhandlungsdokumente geheim, also nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, was übrigens bei allen Verhandlungen über Handelsabkommen in der Vergangenheit immer so gehandhabt worden ist und von der Kommission damit begründet wird, man könne am Ende nur dann das bestmögliche Ergebnis herausschlagen, wenn die andere Seite nicht wisse, welchen Preis man zu zahlen bereit sei, so entspricht die landläufige Behauptung, bei „TTIP“ werde hinter verschlossenen Türen über die Interessen der Bürger hinweg verhandelt und entschieden, nicht ganz der Realität. Was bei „TTIP“ gegenüber früheren Abkommen neu ist, ist, dass zudem Vertreter von Industrie und Zivilgesellschaft Einblick in die Dokumente erhalten. Das erklärt auch die Vielzahl der politischen Talk- Shows, in denen sich die Vertreter unterschiedlichster Interessengruppen über den Sinn und Unsinn des Inhaltes von „TTIP“ nicht immer von allzu großer Sachlichkeit geprägte verbale Scharmützel liefern.
Und übrigens: Entschieden ist in Sachen „TTIP“ noch lange nichts.
Am Ende der Verhandlungen, wenn die Parteien zu einer Einigung gelangt sind, ist es wieder der Rat, der einen – in diesem Fall einstimmigen – Beschluss über den Abschluss der Übereinkunft fassen muss, mithin den Vertrag in seiner Gesamtheit beschließen muss.
Voraussetzung für einen solchen Beschluss ist zunächst die Zustimmung des Europäischen Parlamentes, für die die absolute Mehrheit der Abgeordneten erforderlich ist.
Erst wenn diese Hürden genommen sind, kann der Rat für die Europäische Union den Vertrag schließen, einen Vertrag der dann die Organe der Union und die Mitgliedstaaten bindet (Art. 216 Abs. 2 AEUV).
Soweit die Regel. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Und „TTIP“ könnte, um es vorsichtig zu formulieren, eine solche Ausnahme von der Regel bedingen.
Die vorstehend beschriebenen Verfahrensregeln betreffen solche Abkommen, deren Gegenstand nur die Politikbereiche umfasst, für deren Gestaltung die EU – Organe die ausschließliche Zuständigkeit besitzen. Von „TTIP“ sollen jedoch auch Bereiche erfasst werden, die nach wie vor in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Das würde „TTIP“ zu einem sog. „gemischten Abkommen“ machen, weil in einem einzigen Abkommen Regelungen getroffen werden sollen, für die es unterschiedliche Zuständigkeiten innerhalb des politischen Systems der EU gibt. „Gemischte Abkommen“ ermöglichen es der Union und den Mitgliedstaaten gemeinsam unter Beachtung der Kompetenzverteilung außenpolitische Ziele zu erreichen, ohne dass eine künstliche Aufspaltung völkerrechtlicher Abkommen notwendig wird. Ob ein Gemischtes Abkommen vorliegt, entscheidet sich letzten Endes nach dem Inhalt und der Frage, inwieweit die getroffenen Regelungen noch von den Kompetenzen der EU-Organe gedeckt sind. Im Euro- Jargon spricht man von dem „Pastis- Prinzip“, das hier zur Anwendung kommt. Bekanntermaßen reicht ein Tropfen des Anislikörs aus, um ein Glas Wasser zu trüben. Übersetzt heißt das: Wenn auch nur ein Punkt in dem Abkommen nicht von der ausschließlichen Zuständigkeit der EU – Organe gedeckt ist, und wenn es sich gar nur um einen Unterpunkt handelt, so ist der Tatbestand eines gemischten Abkommens erfüllt. Auf das Mischungsverhältnis kommt es folglich nicht an.
Die hat dann zur Folge, und darin sind sich die Experten wohl einig, dass ein solches Abkommen für sein Zustandekommen nicht nur der Zustimmung des Europäischen Parlamentes, sondern auch der 28 nationalen Parlamente bedarf. Man könnte sagen: In diesem Procedere spiegelt sich die besondere föderative Dimension europäischer Außenbeziehungen wider.
Wenn Cecilia Malmström im Zusammenhang mit der Frage eines Zustimmungserfordernisses der Mitgliedstaaten davon spricht, es handele sich um eine rechtliche Frage, die erst am Ende zu klären sei, so ist dem sicherlich beizupflichten. Denn entscheidend ist, um ein Wort eines früheren deutschen Kanzlers aufzugreifen, „was hinten herauskommt“. Soll heißen: Ob es dieser Zustimmung bedarf und vor allem in welchem Umfang die nationalen Parlamente sich mit dem Abkommen zu befassen haben, lässt sich wohl erst mit Gewissheit am Ende der Verhandlungen klären. So stellt sich auch die Frage, ob die nationalen Parlamente über das gesamte Vertragswerk zu befinden haben oder nur über den in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallenden Vertragsgegenstand. Diese und andere Fragen werden am Ende der Verhandlungen zu klären sein. Europa ist kein einfaches Projekt. Die letzte Weisheit kennt nur der Europäische Gerichtshof (EUGH). Und den kann jeder Mitgliedstaat, das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission um ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer geplanten Übereinkunft mit europäischem Recht ersuchen (Art.218 Abs.11 AEUV). Dieses liefert dann auch die Antwort dafür, welche politischen Wunschvorstellungen mit der verfassungsrechtlichen Wirklichkeit in Einklang stehen.